Die Corona-Krise war zweifelsohne ein Katalysator für die Digitalisierung in Deutschland. Während künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin wie auch der Versicherungsbranche auf dem Vormarsch ist, geht es anderen noch zu langsam voran. Wir sprachen mit Katharina Willkomm, FDP Bundestagsabgeordnete aus Aachen Stadt, und stellten ihr die Fragen: Wo besteht in Deutschland virtueller Aufholbedarf und ab wann ist Digitalisierung eine moralische Grauzone?
Redaktion: Frau Willkomm, wie würden Sie den Fortschritt der Digitalisierung in Deutschland beschreiben?
Katharina Willkomm: Als Trauerspiel im Schneckentempo. Selbst dort, wo wir vorankommen, sind wir eigentlich furchtbar spät dran. Man hört von Seiten der SPD und der Union bis rauf zur Kanzlerin ganz stolz, wir hätten in der Corona-Pandemie so enorme Fortschritte in der Digitalisierung gemacht. Das ist nicht ganz falsch, weil es jetzt auch an einigen unserer Schulen Online-Unterricht gibt. Aber für die richtige Einordnung muss man sich mal bei unseren Nachbarn umgucken.
In Estland zum Bespiel hat die Regierung ein nationales Programm umgesetzt, alle Schulen des Landes mit einem Internetzugang und Computern auszustatten. Das war aber kein Programm von 2020. Das war schon 1996. Wir brauchen also deutlich mehr Tempo und mehr Fokussierung, um den Aufholwettbewerb ernsthaft anzugehen. Wir Freie Demokraten machen dazu viele gute Vorschläge in unserem Bundeswahlprogramm.
Redaktion: Wo sollte es denn Verbesserungen geben?
Katharina Willkomm: Überall. Als rohstoffarmes Land mit einer immer älteren Bevölkerung haben wir nichts zu verschenken und sollten die Digitalisierung und andere Möglichkeiten des technischen Fortschritts nutzen, soweit es geht.
Konkret und vorrangig: Wir müssen schneller, effizienter und konsistenter werden bei der digitalen Transformation Deutschlands.
Redaktion: Und mit welchen Maßnahmen kann das umgesetzt werden?
Katharina Willkomm: Damit wir wieder nach vorn kommen, brauchen wir erstens ein Ministerium für digitale Transformation. Wir Freie Demokraten wollen die Digitalpolitik der Regierung effizienter machen, indem wir Kompetenzen in einem Ministerium bündeln und es eng mit den anderen Regierungsressorts verknüpfen.
Des Weiteren müssen wir eine moderne digitale Infrastruktur schaffen. Was wir brauchen, ist eine flächendeckende und hochleistungsfähige Mobilfunkabdeckung. Dafür unumgänglich: echter Wettbewerb auf dem Mobilfunkmarkt, ein Glasfasernetz und eine konsequente Hochrüstung der Mobilfunktionsnetze. Wir wollen, dass der bundesweite Aufbau von 5G-Netzen bis zum Jahr 2025 abgeschlossen ist.
Wir, Bürger wie Unternehmen gleichermaßen, vergeuden außerdem zu viel Zeit und Energie, um bürokratische Vorgaben des Staates zu erfüllen. Dabei muss es eigentlich so sein, dass eine bürgernahe und digitale Verwaltung den Bürgerinnen und Bürgern das Leben erleichtert. Wir wollen daher das Once-Only-Prinzip einführen: Bürgerinnen und Bürger müssen bestimmte Daten der öffentlichen Verwaltung nur noch einmal und nicht jeder Behörde einzeln mitteilen.
Alle notwendigen Amtsgänge sollen virtuell und barrierefrei möglich und alle Dienstleistungen mit digitalen, medienbruchfreien Verfahren durchführbar sein. Dazu wollen wir alle Planungen zur Einführung von Bürgerkonten zu einer einheitlichen digitalen Plattform zusammenführen, dem Deutschlandportal. Dort können Bürgerinnen und Bürgern alle sie betreffenden personenbezogenen Daten einsehen, die der Staat gespeichert hat.
Redaktion: Inwieweit hat die Corona-Krise als Katalysator, nicht nur für Unternehmen, sondern auch politische Entscheidungen in der Digitalisierung fungiert?
Katharina Willkomm: Die Corona-Krise hat für alle offensichtlich gemacht, in welch traurigem Zustand Deutschland als Digitalland ist, dass die digitale Infrastruktur nicht stimmt und dass die Regierung die Digitalisierung weder gut organisiert, noch wichtig genug genommen hat.
Durch die Corona-Einschränkungen und die Kontaktminimierung wurden viele Behörden und Arbeitgeber nun zu ihrem Glück gezwungen.
Ob Homeoffice und Videokonferenz oder Terminvergaben und Anträge „online only” – bei vielen Anwendungsfällen hat sich gezeigt, dass sie auch rein digital funktionieren.
Selbst im Bundestag mussten sich viel ältere Abgeordnete den neuen Techniken öffnen. In vielen Köpfen hat sich dabei die Hemmschwelle vor der Digitalwelt abgebaut und Gewohnheiten wurden aufgebrochen.
Viele Bürger haben durch Corona ihre Standpunkte zum Umgang mit neuer Technik überprüft. Am Beispiel des kontaktlosen Bezahlens zeigt sich das besonders deutlich. War das vor Corona den in den Augen vieler eher unheimlich und erschien unsicher, gab es durch die Pandemie einen schlagartigen Umschwung, weil niemand die Lesegeräte zur PIN-Eingabe anfassen wollte. Auch wenn man das nur schwer beziffern kann, hat Corona den Wandel zu einer Digitalwelt sicher um mindestens fünf Jahr beschleunigt. Wenn es nach der Bundestagswahl ein Digitalministerium gibt, dann auch aufgrund der praktischen Erfahrungen aus der Pandemie.
Redaktion: Welche Zielgruppe leidet besonders unter einer schleppenden Digitalisierung?
Katharina Willkomm: In der Corona-Krise ist offensichtlich geworden, dass Schülerinnen und Schüler – besonders die sozial benachteiligten – am stärksten betroffen sind. Sie haben das Nachsehen, wenn sie auf ihrem Bildungsweg abgehängt werden, weil ihre Schule weder guten Unterricht vor Ort noch online anbieten kann. Gerade weil sich verpasste Bildungschancen kaum nachholen lassen, finde ich das besonders problematisch.
Vielleicht hätten alle Bürgerinnen und Bürger weniger Einschränkungen ihrer Freiheiten in der Corona-Krise hinnehmen müssen, wenn durchdigitalisierte Gesundheitsämter schneller die unterschiedlichen Infektionsentwicklungen kleinteilig erfasst und ausgetauscht hätten, sodass die Eindämmungsmaßnahmen schneller und präziser ergriffen worden wären.
Redaktion: Egal in welchem Tempo, die Digitalisierung schreitet voran und bietet immer mehr Möglichkeiten. Ab wann sehen Sie das von einem moralischen Standpunkt aus kritisch. Sollten Algorithmen beispielsweise Bewerber aussortieren, bevor Sie ein Personaler gesprochen hat?
Katharina Willkomm: Das kommt darauf an. Wenn für eine schnellstens zu besetzende Stelle ab Tag eins bestimmte formale Qualifikationen notwendig sind, etwa eine konkrete Führerscheinklasse, dann ist kein Personaler aus Fleisch und Blut notwendig, um das anhand der eingereichten Unterlagen zu überprüfen. Je weniger es allein um solche formalen Aspekte geht, desto herausfordernder wird es.
So wie der potenzielle Arbeitnehmer immer Anspruch darauf hat, als Mensch ernstgenommen zu werden, so hat der potenzielle Arbeitgeber das Recht, seine Geschäftsprozesse effektiv zu organisieren.
Noch sensibler als die Grenzen des KI-Einsatzes bei der Personalfindung sind meines Erachtens die Verlockungen für den Staat, beispielsweise in der Kriminalitätsbekämpfung einseitig auf predictive policing zu setzen. Hier wird die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straftaten via Datenauswertung analysiert.
Für Unternehmer wie für den Staatsanwalt kommt es darauf an, nicht nur digitale Werkzeuge an die Hand zu bekommen. Es muss auch ein technisches Grundverständnis vorliegen, um die Antworten des Algorithmus hinterfragen und gegebenenfalls korrigieren zu können.
Redaktion: Was wären andere Gefahren einer zu digitalen Gesellschaft? Wie kritisch sehen Sie beispielsweise Entwicklungen in der Medizin?
Katharina Willkomm: Die Digitalisierung bietet zunächst einmal Chancen für Forschung, Innovationen und die medizinische Versorgung, die wir in Deutschland noch lange nicht ausreichend genutzt haben. Hier gibt es noch viel zu tun. Wir müssen auch darauf achten, dass keine permanente Gesundheitsüberwachung des einzelnen Bürgers erfolgt. Wenn jedes suboptimale Verhalten – beispielsweise das Bier am Abend – mit höheren Krankenversicherungsbeiträgen bestraft wird, laufen wir Gefahr, als Individuen unsere Freiheit zu verlieren.
Aus meiner Sicht ist eine Grenze jedenfalls dort erreicht, wenn Algorithmen darüber entscheiden, wer welche Behandlung bekommt, wer leben darf oder sterben muss.
Redaktion: Dass es einen digitalen Umbruch gibt, ist nicht zu leugnen. Was raten Sie Unternehmern, um einerseits zum „endgültigen“ Wandel beizutragen, andererseits den Anschluss nicht zu verpassen?
Katharina Willkomm: Es ist ja nicht Aufgabe des einzelnen Unternehmens, einen Beitrag zum allgemeinen digitalen Fortschritt zu leisten. Das klingt ein bisschen nach DDR 2.0. Es geht meiner Meinung nach darum, Unternehmerin im besten Sinne zu sein. Zu gucken, wo sind neue Geschäftschancen für meine Firma? Wie kann ich noch besser werden und im Wettbewerb bestehen? Das erfordert auch eine Offenheit und Experimentierfreude mit neuen Möglichkeiten.
Ich bin immer wieder überrascht, wenn zum Beispiel Restaurants noch immer nur Barzahlung anbieten, weil sie die Technik und Umsatzbeteiligung der Kartenfirmen scheuen. Derweil ermöglichen ihre Mitbewerber manchmal sogar bereits die Zahlung per PayPal und erreichen damit ganz neue Kunden.
Fakt ist: Ohne Digitalisierung geht heute kaum noch etwas.
In der Corona-Krise haben das viele verstanden – und einfach mal angefangen. Deshalb bieten heute selbst so handfeste Unternehmen wie der Buchladen um die Ecke Autorenlesungen online an und auch kleine Fahrradläden offerieren ihre Produktpalette per E-Commerce.
Titelbild: © Katharina Willkomm
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