Bürgerversicherung: „Der Innovationsmotor fällt weg“

Mit dem Dualen System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung hat Deutschland ein Gesundheitssystem, das vielfach als eines der besten weltweit gesehen wird. Dennoch verlangen einige politische Stimmen immer wieder nach einer radikalen Änderung in ein Einheitssystem, die sogenannte „Bürgerversicherung“. Was würde das für unser Gesundheitssystem bedeuten? 

Was ist eine „Bürgerversicherung“?

Am 26. September ist Bundestagswahl – und die Parteien sind mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen in den Wahlkampf gegangen, wie die Zukunft des Gesundheitssystems auszusehen hat. Es gibt dabei zwei Ansätze: CDU und FDP möchten das bewährte Duale System aus privater und gesetzlicher Krankenversicherung aufrechterhalten. SPD, Grüne und Linke sind dagegen für einen Wechsel zu einer sogenannten „Bürgerversicherung“.

Bei einer „Bürgerversicherung“ soll es keine privat und gesetzlich Versicherten, sondern nur noch „Bürgerversicherte“ in einem gesetzlich vorgegebenen Einheitssystem geben. Jeder Bürger müsste in diesem Fall in die „Bürgerversicherung“ einzahlen und würde dafür die gleichen Leistungen erhalten – der bisherige Qualität fördernde Systemwettbewerb zwischen den „Gesetzlichen“ und den „Privaten“ fiele weg. Zusätzliche Leistungen müssten sich die Versicherten dann über Zusatzversicherungen privat hinzukaufen – oder aber, wie in vielen Einheitssystem zu beobachten, durch direkte Zuwendungen an die Leistungserbringer – quasi „unter der Ladentheke“ – erkaufen, was das Risiko einer wirklichen Mehrklassen-Medizin deutlich erhöhen würde. Die Befürworter behaupten, dass bei Facharzt-Terminen und Behandlungen keine Unterschiede mehr gemacht und alle mit den gleichen Leistungen versorgt würden. Dabei zeigt ein Blick in Länder mit Einheitssystemen, dass das Versorgungsniveau häufig deutlich niedriger, der Zugang zu medizinischen Leistungen erheblich eingeschränkter und die Wartezeiten deutlich länger sind als in Deutschland. Außerdem propagieren sie sinkende Beiträge gegenüber der aktuellen Gesetzlichen Krankenversicherung.

Kritiker bezweifeln diese Prognosen. Sie befürchten nicht nur eine schlechtere Patientenversorgung, sondern auch einen Stillstand medizinischer Innovationen. Und sie rechnen damit, dass die Beiträge bei einer „Bürgerversicherung“ langfristig sogar steigen werden.

„Keine Lösung für anstehende Probleme im Gesundheitswesen“

Zu den Skeptikern gehören auch viele Ärzte. So berichtet das Ärzteblatt, dass die deutsche Ärzteschaft einer Bürgerversicherung mehrheitlich kritisch gegenüber steht. Mit der Einführung einer Bürgerversicherung drohten „Rationierung, Wartezeiten und Begrenzungen des Leistungskatalogs, befand der Vorstand der Bundesärztekammer auf dem 124. Deutschen Ärztetag.

Dr. Dirk Heinrich, Vorsitzender des Virchowbunds und Leiter des Hamburger Impfzentrums, erklärt im Interview mit dem Verband der Privaten Krankenversicherung: „Eine Einheitsversicherung, die gerne auch Bürgerversicherung genannt wird, damit es besser klingt, führt immer dazu, dass Sie letztlich ein Monopol aufbauen. Sie haben dann nur noch eine Krankenkasse, der alle Ärztinnen und Ärzte gegenüberstehen. Das führt über kurz oder lang zu einem staatlichen Gesundheitswesen mit weniger Leistungen, mit sinkenden Preisen, mit weniger Terminen und mit Wartelisten – nicht nur für Operationen, sondern auch für Termine bei Haus- und Fachärzten. Deswegen ist ein Einheitssystem keine Lösung für anstehende Probleme im Gesundheitswesen, zumal dann auch der Innovationsmotor wegfällt.“

Laut Heinrich seien privat versicherte Selbstzahler Innovationstreiber, in dem sie Leistungen in Anspruch nehmen würden, die neu sind und sich dadurch etablieren können.

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Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Mai 2021 legt außerdem nahe, dass eine „Bürgerversicherung“ die ärztliche Versorgung in ländlichen Gebieten eher verschlechtern würde: Über 30 Prozent der niedergelassenen Ärzte befürchten demnach, dass Praxen schließen müssten, wenn es weniger Privatversicherte gäbe. Das ergibt sich dadurch, dass bei niedergelassenen Ärzten im ländlichen Raum die Honorare der Privatversicherten besonders stark ins Gewicht fallen. 

Kostenfaktor „Bürgerversicherung“

Aber wäre eine Bürgerversicherung für die Versicherten dann nicht wenigstens günstiger? Das hat das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) überprüft und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: 

So ließe „sich der Beitragssatz zwar um 0,8 bis 1,0 Prozentpunkte senken und bislang gesetzlich versicherte Personen würden dauerhaft entlastet. Demografischer Wandel, medizinisch-technischer Fortschritt und Fehlanreize sorgen aber weiterhin für einen überproportional starken Anstieg der Ausgaben. Deshalb würde der Beitragssatz bereits nach rund sechs Jahren wieder das Ausgangsniveau erreichen – Tendenz weiter steigend.“ 

Und mehr noch: Durch den Wegfall bzw. die nachhaltige Schwächung des Kapitaldeckungsverfahrens in der Privaten Krankenversicherung würden kommende Generationen deutlich stärker belastet. Fazit der Studie: „Eine Begrenzung umlagefinanzierter Leistungsansprüche – ergänzt um kapitalgedeckte Finanzierungselemente – könnte dagegen helfen, solidarische Umverteilung auch intergenerativ gerecht zu organisieren.“

(Quelle: Martin Beznoska / Jochen Pimpertz / Maximilian Stockhausen – IW-Analysen 143 – Führt eine Bürgerversicherung zu mehr Solidarität? (siehe https://www.iwkoeln.de)

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